Schwedische Antwort auf Stranger Things? Von Lovecraft inspiriert? So wird die Young-Adult-Horrorserie Cryptid von Viaplay (eine skandinavische Streamingplattform) derzeit angepriesen. Und das in praktischer „Snack“-Form: Jede Episode läuft gerade einmal 22 Minuten, und es gibt auch nur zehn davon. Aber wie gut verdaulich ist ein solcher „Snack“?
Mal eben in einen Fleischhaufen explodiert
Der Schulalltag im schwedischen Mörkstad („Dunkelstadt“) ist fast wie überall in den Lehranstalten dieser Welt: Populäre Jungs scherzen, laufen mit Skateboards durch die Gänge, bis Sebastian (Sänger und Casting-Show-Star Oscar Zia), nach etlichem verdächtigen Kratzen an seinem Nacken mal eben in einem Fleischhaufen explodiert. Ja, die Serie startet mit einem recht blutigen Statement …
… und verfällt danach erstmal in Schockstarre. In aller Ausführlichkeit demonstriert die Serie nun, was ein solches Ereignis mit den Menschen, die es miterleben mussten, macht. Und führt erstmal die drei Protagonisten ein:
- Niklas (Julius Fleischanderl), skatender Freund von Sebastian, Sohn vom Schul-Rektor, der hier erstmal ordentlich traumatisiert wird. Aber mit Traumatas offenbar auch schon Erfahrung hat.
- Lisa (Astrid Morberg), einfühlsame Kunst-Nerdin und größere Schwester von Niklas, die offenbar ein vergangenes Ereignis in ihrer Kunst blutrot verarbeitet.
- Ester (Maja Johanna Englander), Rebellin und derzeit noch Freundin von Niklas, die selbst von Eifersucht zerfressen ist, aber eigentlich eine Affäre mit Sebastian hatte.
- Dazu noch zwei „irische“ Zwillinge, die im Januar und Dezember des selben Geburtsjahres auf die Welt kamen, aber eigentlich nicht wichtig sind.
Erstmal versucht Niklas, das erlebte Trauma des explodierten Klassenkameraden irgendwie zu verdrängen. Anstatt darüber zu sprechen, wie ihm seine Freundin Ester immer wieder anbietet, sucht er Ausflüchte – nur um sich Minuten später wieder darüber zu beschweren, dass keiner den Tod von Sebastian überhaupt zu beachten scheint. Dann werden doch noch Sebastians Freunde auf ihn aufmerksam und wollen ihn wegen dessen Tod verprügeln. Normales Teenager-Drama also.
Immerhin steigt währenddessen offenbar neues Unheil im städtischen See herauf. Doch das blubbert erstmal nur bedrohlich vor sich hin.
Scandic-Noir-Vibe mit 80er-Synthesizer
Auffallend: ein Synthesizer-Score, der Jan Hammer alle Ehre machen würde, wildert natürlich genussvoll in dem angestrebten Genre der 80er-Jahre-Hommage, obwohl die Serie selbst kontemporär angesiedelt ist. Auch ansonsten bedient man sich locker weiter in dieser Klischeekiste: Coole Fahrräder als Transportmittel, flackernde Zwischenschnitte, gerne auch mal komplett mit einem Rotfilter versehen.
Aber dann doch: dies ist keine amerikanische Kleinstadt, sondern eine schwedische – und ja, das ist ein Unterschied den man durchaus auch erkennen kann: Nicht nur an der Architektur, gleich von Anfang an merkt man einen gewissen Scandic-Noir-Vibe.
Und auch in anderen Details weicht die Serie vor den 80er-Genre-Vereinbarungen ab: Es gibt Handys und sie werden auch genutzt. Und wie seit Sherlock werden die Texte natürlich für den Zuschauer immer wieder prominent direkt auf einem freien Fleck des Bildes eingeblendet – auch hier immerhin komplett ins Deutsche übersetzt und animiert.
Wie eine Rollenspiel-Runde Cthulhu, wenn alle Spieler durchweg ihre Würfe patzen
Lovecraft-inspiriert nennt sich mittlerweile jede zweite Serie, aber nicht jede versteht auch, sich nicht nur aus dem Ekel-, Grusel- und Tentakel-Fundus des Autoren-Universums zu bedienen sondern auch noch eine gute Story drumherum zu konstruieren. Cryptid versucht dies mit allerhand Style – vergisst aber leider einiges an Substanz darunter zu setzen. So blubbert zwar allerhand in dem Badesee der schwedischen Kleinstadt und an den Nacken der Schülerinnen und Schüler herum, aber die Blasen verpuffen in einem recht soapigen Aufbau leider ziemlich schnell. Man kann sich den Eindruck nicht verwehren, als hätten die Autoren ein Brainstorming gemacht, welche typischen Tropen im Teenager-Kosmos aktuell herumschwirren, und dann all das Mobben-durch-Videos-in-sozialen-Netzwerken, Selbstverstümmelungen und Abschalten-durch-Medikamentenmissbrauch einfach durch einen Trichter gequirrlt, ohne Rücksicht, dass sich die damit gequälten Charaktere auch irgendwie entwickeln sollten und kurz nach der Einführung auch gleich wieder vergessen lassen.
Stattdessen fliehen die Autoren aus der Verpflichtung, eine Geschichte zu erzählen, indem sie ihren Protagonisten einfach sich selbst aus der Verpflichtung abseilen lassen, diese voranzutreiben: Er wirft sich einfach ein paar Pillen ein, denn Niklas will sich nicht erinnern. Und damit tritt die Story erstmal auf der Stelle. Immerhin darf er zwischendurch sich ein paar fanstasievolle Horrorepisoden erträumen, die sich aber eigentlich nur im extremen Color-Grading wesentlich unterscheiden.
Schließlich serviert die Serie dann auch noch ein leider recht uninspiriertes Finale, das in einer Rollenspiel-Runde Cthulhu nur durchgehen würde, wenn alle Spieler durchweg ihre Würfe gepatzt hätten. Insofern ist dieser Serien-Snack leider nicht mehr als ein kalorienarmes Light-Riegel-Ding, dessen Pseudo-Karamell unangenehm lange Fäden zieht.