1899 (Serien-Kritik)

Die Atlantikquerung wurde im ausgehenden 19. Jahrhundert immer bequemer. Große Dampfer brachten die Europäer nach Amerika. So auch die Kerberos, ein deutsches Passagierschiff. Doch dann entdecken sie das seit Wochen vermisste Schwesterschiff Prometheus – menschenleer. Was ist hier passiert? Und was für unerklärliche Sachen passieren zunehmend auf der Kerberos selbst?

Jantje Friese und ihr Ehemann Baran bo Odar waren bereits für den internationalen Erfolg von Dark zuständig, einer hochkomplexen Sci-Fi-Serie aus Deutschland, die das Thema Zeitreisen grandios umsetzt. Ihr neues Werk spielt auf dem ersten Blick mit einer Vermischung von Titanic und dem Mythos des Bermuda-Dreiecks. Aber dies brechen sie stufenweise immer weiter auf und entfalten eine deutlich komplexere Story, die am Ende der ersten Staffel (von abermals drei geplanten) abermals mit einem Twist aufwartet, der in eine deutlich andere Richtung zielt als noch Dark.

Volume-Technik für 1899

Das ist Sci-Fi-Mystery in einem historischen Setting, mit multikulturellen Charakteren und einem teilweise fast babylonischen Sprachgewirr, deren Konflikte aber recht schnell zugunsten des zentralen Geheimnis zurückgezogen werden. Gleichzeitig gelingt es den Machern, die Stage-Technik, mit der dies aufgenommen wurde, in den meisten Szenen sehr glaubhaft einzusetzen – nur vereinzelt wirkt dies leider etwas sehr unglaubhaft, besonders bei einem „Sturz“ in der letzten Episode, scheint die Physik etwas arg seltsam zu funktionieren. Dies verdankt die Serie aber sicherlich auch ihre Umgebung, die in den meisten Szenen entweder in beengten Innenräumen oder über Deck in diesiger See bei Nacht besteht.

Was nicht so recht aufgehen mag, ist dann aber die multikulturelle Besetzung. Zwar können sich einzelne Charaktere die ganze Zeit über nur in sehr groben Zügen verständigen, aber sie versuchen nicht wirklich, sich mit Hilfe von Pantomime oder anderen Ideen gegenseitig verständlich zu machen. In einzelnen Gruppenszenen ist dann auch sicherlich eine Person dabei, die übersetzen kann. Tatsächlich separiert diese Idee die Charaktere recht aufgesetzt lange voneinander, was sich leider deutlich zäh für die Geschichte auswirkt. Später, wenn die Ereignisse über sie rüberollen und zur Handlung zwingen, darf dies aber kaum noch eine Rolle spielen. Gleichzeitig erfordert dies dann aber auch von dem Publikum über lange Zeit, viele Untertitel lesen zu müssen und hoffentlich aufgepasst zu haben, welche Sprache gerade gesprochen wird, damit man die Gruppen auseinanderhalten kann. Oder man schaut eine komplett synchronisierte Version, die dann aber keinen Sinn mehr macht, sobald es zu Miss- oder Unverständnissen kommt. In einer zweiten Staffel gibt es allerdings narrative Optionen, dies deutlich zu verbessern.

Die drei Protagonist:innen

Etwas leidet die Serie dann aber auch darunter, dass es kaum eindeutige Held:innen gibt und wenn es sie gibt, sind sie leider auch erstmal nur Spielball anderer Charaktere oder, noch schlimmer, der Wellen. Meistens laufen sie nur von einem Set ins nächste, ohne eigentlich zu wissen, was sie da wollen, trennen sich oder kommen wieder zusammen, kurz: sie reagieren meistens nur und agieren kaum aus eigenen Antrieben. Das wirkt oft als wären es unfertige Charaktere (was sie, kleiner Spoiler, tatsächlich auch sein sollen). Und natürlich muss es in einer Story, die so sehr Dreiecke bemüht, zwischen den drei Protagonist:innen auch eine Dreiecksbeziehung geben.

Der finale Twist eröffnet dann aber, ähnlich wie bei Dark, eine neue Ebene und macht neugierig, wie es weitergehen kann.

Fotos: Netflix.

Ron Müller

Rollenspieler auf der Suche nach neuen staffelübergreifenden Handlungssträngen.
docron.de

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