Am schlimmsten ist das, was wir nicht sehen – „The Guilty“ (Kino-Kritik)

Der für den Außendienst wegen einer Untersuchung suspendierte Polizist Asger (Jakob Cedergren) absolviert deshalb den Notrufdienst auf Fünen. Als Iben (Jessica Dinnage), eine verängstige Frau anruft, tut diese so, als würde sie mit ihrer Tochter reden, offenbar ein Trick, damit der gewalttätige Mann in ihrer Nähe nicht mitbekommt, mit wem sie wirklich redet. Nur schrittweise kann sie offenbaren, dass sie gerade entführt wird, während eben jener Entführer ihre Seite mithört. Asger hat nur das Telefon und seinen Computer und muss schnell irgendetwas improvisieren, um die Frau zu retten …

THE GUILTY | Offizieller Trailer | Deutsch HD German

Es gibt Filme, bei denen man von der eigentlichen Story möglichst wenig verraten sollte und daher will ich hier auf die Geschichte nicht weiter eingehen. „Den Skyldige“ (dänisch: „Der Schuldige“) ist nach klassischen Regeln ein arg begrenztes Kammerspiel, das nur zwischen den paar beengten Räumlichkeiten der dänischen Notrufzentrale spielt, und sich vollends auf seinen starken Schauspieler konzentriert. Diesen fängt die Kamera teilweise minutenlang ein und dessen Mimik ist das Einzige, was den akustischen Schrecken, den wir, wie auch er, vorgesetzt bekommen, interpretieren kann. Denn Asger selbst muss auch selbstsicher bleiben, die Frau beruhigen und gleichzeitig wichtige Informationen zusammentragen um Kollegen auf die richtige Fährte lenken zu können. Nur wir sehen, was in ihm währenddessen vorgeht.

Die Kamera fokussiert außergewöhnlich lange Cedergren und erzeugt so tatsächlich Spannung (Foto: NFP marketing & distribution)

Ohne Mimik und das darunter versteckte Gedankenspiel des Protagonisten würde die Geschichte tatsächlich weit weniger stark sein. Hier zeigt das Medium Film eine überraschende Stärke indem es tatsächlich wenig zeigt: Die Leistungen der Darsteller sind immer noch essentiell und werden noch lange nicht von Spezialeffekten ersetzt werden können. Der Minimalismus des restlichen Films ist gerade zu ein erfrischender Kontrapunkt gegenüber dem Effekt-Gewitter, das in vielen Blockbustern, aber gerade auch in Krimis, uns mittlerweile entgegen geschleudert wird.

Hier fehlt die deskriptive Illustration der Wirklichkeit, also Beschriftungen, die virtuell im Raum oder über den Tatort schweben und uns an der Gedankenwelt der Ermittler teilnehmen lassen. Es gibt keine Einblendungen durch Text oder Bildschirmausschnitten, wie bei der Serie „Sherlock“, die 2010 diese Technik für das Genre erst groß etabliert hatte, und deren Inflation im Krimigenre mittlerweile fast krankhaft geworden ist. Oder die schiere gar „magische“ Übermacht an Computerdaten, die uns die „CSI“-Serien vorfantasiert haben. Oder die vielfachen Rückblenden, die ein entdecktes Detail in aller Grausamkeit darstellen mussten.

Stattdessen können wir hier nur dem Ton des Headsets lauschen und vereinzelte Blicke auf den Computerbildschirm von Asger werfen. Dort sieht man aber auch nur den Radius des Funkturms dargestellt, in dem das anrufende Handy gerade eingeloggt ist. Ein bewusster Minimalismus, der den Zuschauer zwingt, sich auf den Protagonisten und die Stimme in seinem Headset zu konzentrieren.

Wir sind also, genau wie Asger, auf unsere Fantasie angewiesen. Und diese spielt wild, wir ergänzen ganz automatisch Zusammenhänge und lassen uns auch dadurch mal auf eine falsche Fährte lenken. Das Instrument der Mauerschau, die einst im Theater aus Kostengründen bisweilen die einzige Option war, funktioniert immer noch hervorragend und in vielen Bereichen weit effektiver als etwas in allen Details zu zeigen. Das, was wir nicht sehen, sondern uns nur ausmalen, ist immer noch das Schlimmste.

Die nahezu einzigen Handlungsorte, bei denen die Kamera dabei ist: Der Wachraum hat einen Nebenraum, in dem sich Mitarbeiter für problematische Fälle zurückziehen können (Foto: NFP marketing & distribution)

„Den Skyldige“ ist ein faszinierender dänischer Thriller – mittlerweile von Dänemark für die Auslandoscars eingereicht –, der sein Thema brutal und ungeschönt nur in unseren Köpfen entstehen lässt und dennoch, oder gerade dadurch die Lehnen der Kinosessel vor einige Belastungsproben stellen wird.

Ron Müller

Rollenspieler auf der Suche nach neuen staffelübergreifenden Handlungssträngen.
docron.de

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